„Nach der großen Zerstörung“ stand auf einem der Gedichtplakate. So hieß auch die besondere Aktion zum 10. Jahrestag der Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima. Johann Voss gestaltete sie am 11. März 2020 vor dem Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben nahe Helmstedt. „Gewiss, es sind nicht Gedichte, die die Welt verändern. Aber um wieviel ärmer, trost- und zornloser lebten wir, gäbe es keine Gedichte und keine Lieder…“, schrieb der Autor in seiner Ankündigung.
Knapp zwischen zwei Schauern und unter starken Windböen sang und las Voss dann am Jahrestag zum Gedenken an Fukushima und für die Hoffnung. Dies tat er hier nicht zum ersten Mal. Bereits 1980 war er bei Platzbesetzungen der Anti-Atomkraftbewegung in Gorleben dabei – mit seinen gerade im Göttinger Gegenwind Verlag erschienenen Gedichten. Bis zur Räumung des öfteren. 2012 gab es die Aktion „Gorleben kulturell umzingelt“. Schon da schrieb Voss Gedichte auf große Plakate, die er auslegte und an Bäumen aushing.
Die jetzige Aktion sah er als Fortsetzung. Er begann sie mit „Unter dem Pflaster liegt der Strand“, einem ermutigenden Lied, das Angie Domdey von der Hamburger Frauengruppe „Schneewittchen“ geschrieben hat und Voss schon mehrfach in Gorleben sang.

Danach trug der Klangkünstler und VS-Kollege aus seinen inzwischen sieben publizierten Lyriksammlungen vor: „Ausgewählt habe ich diejenigen Gedichte, die zum einen die militärische, zum anderen die energiewirtschaftliche Anwendung der Atomenergie thematisieren. Örtlich spannte sich der Bogen also von Hiroshima, Bikini, Harrisburg und Tschernobyl bis nach Fukushima.
Eingearbeitet habe ich auch den in der Anti-Akw-Bewegung bekannten Song ‚So ein Atomkraftwerk‘. Nach der bekannten Volksweise von ‚In Mouders Stübele do geiht de hm hm hm‘ haben unbekannte Aktivist*innen einen bitter-sarkastischen Text über die Zuverlässigkeit von AKWs geschrieben.
Wichtig war und ist mir, mit den Gedichten und Liedern den Mut zum langen Atem zu bekräftigen und die Gefahr der Gewöhnung an das, woran wir uns nicht gewöhnen dürfen, deutlich abzuwehren.“ Deshalb habe er am Ende das Gedicht „nicht vor Sehnsucht sterben“ gelesen.
Mit der freundlichen Genehmigung des Autors veröffentlichen wir hier dieses und das titelgebende Gedicht der Aktion:
Johann Voss
nach der großen zerstörung
das meer ist verblutet
die flüsse entmündigt
die stürme sind vom himmel gestürzt und
haben die windsaat zerschmettert
mit letzter kraft haben die
eisberge sich in die vulkane ergossen
die wüsten haben ihre schiffe
zur milchstraße gelotst
zu den entfernteren sternen
irren die spiegel mit
gebrochenen augen
auf sinais bergen krümmt
der letzte wurm sich in der
völlig verrotteten arche
eingesargt faulen die kontinente
sie haben segel gesetzt mit
unbekanntem kurs
Johann Voss
nicht vor sehnsucht sterben
nicht vor sehnsucht sterben
sondern leben vor sehnsucht
nach leben
nicht vor liebe irrsinnig werden
sondern wie von sinnen
die irrenden lieben
in ihrer suche
nach leben
nicht vor angst zittern
sondern ruhig werden
vor dem zittern
nach leben
nicht vor hass erkalten
und nicht vor kälte hassen
sondern sich wärmen
und atmen
nicht vor schwäche umfallen
sondern aufstehn mit anderen
für den wunsch
nach leben
und manchmal, manchmal weinen
und nicht fassen können
in den verhangenen stunden
das glück
zu leben