In Köln wurde wieder gelesen. Die Autor*innen mit multikulturellen Wurzeln kamen extra dafür aus Essen, Mönchen Gladbach, Düsseldorf, Bonn und Bielefeld. Sie stellten ihre Texte aus der im Vorjahr veröffentlichten Anthologie „Mein zweisprachiges Ich“ vor. Vom 16. bis zum 25. September 2020 veranstaltete der VS Nordrhein-Westfalen vier sprachlich-geografisch gebündelte Veranstaltungen an verschiedenen Orten der Domstadt.
Die Beiträge des in einem bosnischen Verlag erschienenen Bandes „Mein zweisprachiges Ich“ sind auf Deutsch geschrieben. Absichtsvoll. Denn sie sollen der Diskussion mit deutschen Lesern dienen – über das Migrationsschicksal und die sich in unserem Leben oft wiederholenden Situationen, die ein Leitmotiv unserer Werke bilden.

So war es auch im Lew-Kopelew-Forum, wo literarisch ein „russischer Abend“ geboten wurde mit den russischen Schriftstellerinnen Zaira Aminova, Tatjana Kuschtevskaja, Olga Melik-Tangyan, Agnes Gossen-Giesbrecht und Ilona Walger. Tatjana Kuschtevskaja schreibt am wenigsten autobiographisch, sie berichtet eher informativ, verknüpft Sachwissen mit Bildmaterial und Filmen, sie erforscht Kochrezepte, russische Gegenden, Gebräuche, russische Literatur und russische Frauen. Ilona Walgers „Der Knopf“ ist die rührende Geschichte einer älteren Frau, die die Tür im Bus nicht öffnen kann, weil sie nicht weiß, dass man auf den Knopf drücken muss.
Unterschiedliche Perspektiven
Im Kulturcafé „Lichtung“ war die Balkangruppe zu Gast: Danwar Almann, ein kurdischer Autor aus Düsseldorf, las seine psychologische Geschichte „Trauma“. Dragica Schröder aus Hilden berichtete über ihren Anfang in Deutschland, „als sie ein neues Leben begann“. Simo Esic, Verleger der Anthologie, lieferte Beispiele seiner aus dem Serbokroatischen übersetzten Lyrik. Safeta Obhodjas, Autorin von „Scheherezade im Winterland“ las die Erzählung „Ein Weg aus freien Stücken“. Vladislav Radak, Mathematikdozent an der TU Dortmund, der jüngste von uns allen, 1987 in Belgrad geboren, schrieb schon mit 15 seinen ersten Roman. Diesmal las er eine Geschichte über Kuba.
Im großen Saal des Volkshochschul-Forums fanden weitere zwei Veranstaltungen statt. Beim spanisch-französischen Abend trugen die Französinnen Florence Hervé und Sylvie Schenk ihre Texte vor; die letztere, Romanautorin beim Hanser-Verlag, wurde von dem Komponisten und Produzenten Heribert Leuchter musikalisch begleitet. Isabel Lipthay aus Chile und ich aus Spanien lasen aus thematisch sehr unterschiedlichen Perspektiven – über die Pinochet-Diktatur und die Bewerbung einer blinden Angestellten in einer deutschen Firma.

Der türkisch-georgische Abend vereinte solch unterschiedliche Autor*innen wie Kemal Astare, Dozent und Dolmetscher für Türkisch und die Sprache Zaza, Mevlüt Asar, Lehrer in Duisburg, Molla Demirel, Sozialpädagoge in Münster, und Irma ShiolaShvili, promovierte Lyrikerin aus Georgien, die in Bonn wohnt.
Corona getrotzt
Seit 2006 organisiert der VS-NRW drei bis vier solcher multikulturellen Veranstaltungen im Jahr, meist im September. Mit dabei waren früher bereits so prominente Lesende wie Yoko Tawada, Rafik Schami oder Safiye Can. Diese Kontinuität hat sich bewährt und es haben sich auch immer mehr Kooperationen mit Veranstaltungsorten etabliert – die mit der Volkshochschule gibt es seit 2015, das Lew-Kopelew-Forum ist in diesem Jahr neu hinzugekommen.
Trotz Corona und unserer vielen Ängste haben wir diese Lesereihe auch 2020 bewältigen können, mit durchschnittlich um die 20 Besuchern. Freilich hat die Atmosphäre durch die vielen Einschränkungen an Freude und Lebendigkeit etwas eingebüßt. Wir wünschen uns bessere Zeiten für die Kultur!
Die Anthologie „Mein zweisprachiges Ich“ kann für 15 Euro zzgl. Porto per E-Mail beim Verlag bestellt werden: verlagesic@t-online.de