Ganz in den Fußstapfen der Theorie sozialer Systeme schreibt Soziologe Dirk Baecker seine große Erzählung als „Medienarchäologie“: Er weist der Sprache (1.0), der Schrift (2.0), dem Buchdruck (3.0), und den elektronischen Medien plus Computer (4.0) die archaischen Stämme, die Antike, die Moderne und die „nächste Gesellschaft“ zu.

Selbst spricht er von Probebohrungen und nennt sein Buch einen Versuchsballon. Wie gut und wie schlecht unsere Gesellschaft ist, darüber streiten in der Politik Rote, Grüne, Gelbe, Schwarze und Braune. Wie sich unsere Gesellschaft beschreiben und begreifen lässt, daran versucht sich die Wissenschaft mit ihren Theorien und Methoden. Religion, Kunst und Journalismus mischen auch gerne mit, alle zusammen warten mit einem bunten Potpourri an Begriffen, Deutungen, kleinen und großen Erzählungen auf. Jetzt bietet Dirk Baecker, derzeit auf dem Lehrstuhl für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/ Herdecke, eine Gesellschaftsgeschichte der Menschengattung an; nicht ohne sich bei den Historikern für dieses kühne Unterfangen zu entschuldigen.
Auf den 272 Seiten finden sich viele reife, nachgerade aphoristische Sätze, allerdings auch manche, die direkt aus der Fertigung der Gedanken flossen und sich nie die Frage gestellt haben, welche Leser sie verstehen werden. Im Wechsel das Baecker-Buch und Yuval Noah Hararis „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ zu lesen, wäre der Tipp für eine intellektuell vergnügliche Jahreswende, vorausgesetzt, die Leserinnen und Leser haben mit Texten aus der systemisch-konstruktivistischen Szene wenigstens mal geflirtet.
Höher ist lange kein sozialwissenschaftlicher Versuchsballon gestiegen als „4.0 oder die Lücke, die der Rechner lässt“. Dieses Buch ist (für mich) das Bellevue eines Denkens auf der Höhe der Zeit. Es eröffnet ein atemberaubendes Panorama, ein Wissensgebirge erhebt sich. Und die Lücke, die der Baecker lässt? Frauen. Gender, die größte soziale Frage der Gattung Mensch, interessiert ihn weniger. Die Politik, die Wirtschaft, den Konsum, Gott, Liebe, Sport und zwanzig weitere große Angelegenheiten gesellschaftlichen Lebens macht er sich zum Thema.
Die Massenmedien und die Kunst auch. Eine Kostprobe aus dem Kapitel über die Massenmedien: „Für die private Nachricht im Freundes- und Familienkreis gilt ebenso wie für jede professionelle Suche im Datenuniversum, dass keine Information nicht wichtig sein kann und jede Information vermutlich unwichtig ist.“ Die Unterschiede zwischen Nachrichten, Unterhaltung und Werbung – PR werden nicht angesprochen – verlören sich in der „nächsten Gesellschaft“.
Baecker stellt jedem seiner Themen eine These voran. In der These über die „Kunst als Wahrnehmungsarbeit“ heißt es: „Die Kunst der nächsten Gesellschaft ist wild und dekorativ. Sie zittert im Netzwerk, vibriert in den Medien, faltet sich in Kontroversen und versagt vor ihrer Notwendigkeit. Wer künstlerisch tätig ist, sucht für seinen Wahn-Sinn ein Publikum.“ Im produktiven Umgang mit ihren Medien – der Farbe und der Form, des Lichts, des Klangs und der Töne, der Buchstaben und Wörter, der Bewegung und des Stillstands, der Materie nicht zu vergessen – habe Kunst die Lizenz zur Utopie ebenso wie zum Katastrophenszenario, zur Nostalgie wie zur Avantgarde. „Das hört sich anstrengend an und ist es auch“, sagt Baecker über die „nächste Kunst“ – sie macht, das wusste auch Karl Valentin, Arbeit.
Dirk Baecker, 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt. Merve Verlag 2018, 272 Seiten, 22 Euro, ISBN: 978-3-96273-012-3